KURZGESCHICHTEN

Hier stellvertretend zwei Beispiele:

Das dunkle Loch

Der Sommer dieses Jahres war besonders regnerisch. Nur selten blieb es länger als zwei Stunden trocken. Wald und Wiesen strotzten dafür saftig grün. Die ganze Flora quillte beinah über.

 

Viele Kinder blieben in den Häusern, sahen fern. Nur Lea machte sich aus diesem trüben Wetter nichts. Im Gegenteil. Sie hatte ihre roten Stiefel, eine gelbe Regenjacke und den Plastikhut dazu. So blieb sie stets gesund und trocken.

 

Selbst ein starker Regenschauer konnte ihr die Freude nicht verderben. Lea fühlte sich fast wie ein bunter Fisch im Wasser. Abenteuerlustig streifte sie durch ihren Garten und die Wiese, die direkt am Zaun anschloss.

 

Der Sommer dieses Jahres blieb jedoch nicht nur des Dauerregens wegen unvergesslich. Nein, es gab noch einen andern Grund dafür. Und zwar begann es damit, dass die kleine Lea unter einer alten Eiche ein geheimnisvolles Loch entdeckte.

 

"Wohnt hier jemand?", rief sie in das Loch. Sie schaute rein, doch war das Loch so schwarz wie alle Löcher. Lea lauschte aufmerksam. Das Loch blieb aber stumm. Sie wartete und wartete, doch nichts geschah. Sie dachte: "Hätt ich nur die Taschenlampe meines Vaters, könnt ich immerhin was sehn!"

 

Am nächsten Tag besuchte sie zum zweiten Mal das Loch. Es schien ein bisschen größer als beim ersten Mal. Sie schaute rein, und rief erneut "Hallo!". Doch wieder blieb es stumm.

 

Sie holte nun die Taschenlampe aus der Jacke, richtete den hellen Strahl ins Loch. Sie sah nur Wände und kein Ende. Aber gab es da nicht kleine Muster an den Wänden?

 

Als die Mutter rief, verließ sie schnell den Ort, versteckte ihre Lampe und kehrte erst am nächsten Tag zurück. Das Loch erschien ihr abermals ein bisschen größer. "Seltsam, dachte sie."

 

Sie leuchtete hinein und rief erneut. Doch wieder blieb das Loch wie schon beim ersten und beim zweiten Male stumm. Sie wartete und wartete, doch ihre Neugier machte sie ganz ungeduldig. "Soll ich ewig warten, bis das Loch sich endlich meldet?"

 

Sie griff hinein und merkte, dass sie eigentlich ganz locker in den Tunnel passte. Und die Lampe spendete genügend Licht. "Ich kann mich doch ein wenig in den Tunnel wagen, ohne großes Risiko. Ich bin doch viel zu ungeduldig!"

 

Also kroch sie in das schwarze Loch hinein. Es war darin schön trocken, fast so warm und trocken wie in einem Flur. Die Wände hatten hübsche Muster. "Irgendjemand scheint den Tunnel tapeziert zu haben", dachte sie.

 

Sie wusste von den Märchen, dass man oft in andern Welten landet, wenn man sich in dunkle Löcher vorwagt. Darum war die Neugier auch so groß. Vielleicht war dort die Frau zu finden, die den Regen macht.

 

Es war ja Sommer. Also dachte sie, es könne kaum Frau Holle sein, die hier im Erdreich ihren Wohnsitz hat. Und während sie sinnierte und stets tiefer in den Tunnel drang, bemerkte sie, dass sie die Taschenlampe nicht mehr brauchte. Denn es wurde langsam hell.

 

"Wie gut ist das! Dann spar ich meine Batterien!" Lea steckte ihre Lampe weg und lief nun frei und unbeschwert in diesem mittlerweile immer größern Flur stets weiter. "Schön ists hier! Und gar nicht gruselig!"

 

Nun, Lea war schon immer mutig, aber diese Sache war schon was besonderes. Sie vergaß die Zeit, vergaß die Angst, vergaß, dass kleine Mädchen solche Dinge nie alleine unternehmen sollten. Aber irgendetwas gab ihr Kraft. Es war hier drin so spannend und trotz allem so vertraut.

 

Als der Tunnel immer größer wurde, immer heller, sah sie plötzlich in der Ferne eine Tür. Sie lief dorthin und klopfte mehrmals auf das bunt bemalte Holz. Da rief ne Stimme von der andern Seite: "Ja, herein!"

 

Die Stimme klang in ihren Ohren warm und freundlich. Darum drückte sie die Klinge langsam runter und ihr Herz zersprang beinah vor Neugier. "Wer um Himmels Willen wohnt wohl hier an diesem wundersamen Ort?"

 

Sie trat hinein und ihr entgegen kam der Vater. "Lea, ach wie schön, dass Du mich hier besuchen kommst! Wie schön, dass Du die Taschenlampe mitgenommen hast."

 

"Du bist nicht böse?", fragte Lea etwas sorgenvoll. Ich hab sie aus dem Schrank geholt in Deinem Arbeitszimmer. Doch ich hätte sie letztendlich nicht benötigt."

 

"Ja, das stimmt! Du hättest sie in diesen Hallen nicht gebraucht. Die Welt hier drinnen ist ganz hell und warm. Es ist ein wunderschöner Ort. Komm zieh die Regenjacke aus!"

 

Und Lea machte, was er sagte, legte Hut und Regenjacke ab. Inzwischen waren beide trocken und sie legte sie auf einen Stuhl.

 

"Ich werde Dir nun diese Welt hier zeigen, denn Du sahst bist jetzt nur diesen langen Tunnel. Erst dort hinten wird es wirklich zauberhaft." Er nahm sie an der Hand und führte sie durch eine enge Tür.

 

Auf einmal waren sie in einem Zaubergarten. Tausende von Blüten, Vögel, Schmetterlinge wogten hin und her. Es war ein Tanzen, Singen und ein Farbenleuchten wie im schönsten Märchenland.

 

"Du kannst Dich hier befreunden mit den Tieren, mit den Blumen, die Du siehst. Du kannst hier spielen, tanzen, singen. Alles, was Du willst. Du wirst auch andern Kinder noch begegnen, die mit ihren Eltern und Geschwistern in den schönsten Häusern wohnen. Aber nur Geduld! Das hat noch Zeit!"

 

Der Vater sah so glücklich aus. So sah er sonst im Alltag kaum je aus. Wie seltsam, dachte sie, dass ich ihn hier gefunden hab. Das ist vielleicht sein Arbeitsplatz, den ich per Zufall aufgestöbert habe."

 

Lea setzte sich mit ihm an einen Tisch im Wald, ganz nah an einem See. Er holte Früchte, Kuchen und Getränke und die beiden plauderten so friedlich, dass die Zeit im Nu verging. "Nun musst Du aber wieder heim! Die Zeit ist um."

 

Der Vater schaute liebevoll in ihre Augen. "Komme morgen wieder, wenn Du willst, ich werde Dir noch andre Wunderdinge zeigen." Lea fragte noch, ob er sie nicht begleiten würde. Aber er verneinte. "Heute komm ich nicht nach Haus."

 

Als Lea durch den langen Flur zurück zum Eingang lief, war sie durchpulst von Glück und Seligkeit. Sie stieg heraus aus ihrem Loch und stand bereits im Regen. "Oh je, jetzt hab ich meine Jacke dort vergessen! Aber morgen komm ich wieder und zu mir nach Haus ists ja nicht weit."

 

Sie lief, so schnell sie konnte durch den Garten und die Treppe hoch. Sie sah, dass vor der Tür ein Streifenwagen parkte. Gerne hätte sie das hübsche Auto angeschaut, doch weil es regnete, verschwand sie schnell ins Innere.

 

Die Mutter stand im Flur mit einem Polizeibeamten. Ihre Augen waren voller Tränen. Als sie Lea kommen sah, umarmte sie sie warm und herzlich, aber ihre Stimme klang verzweifelt.

 

"Ach Lea", rief sie, "sei jetzt stark! Dein Papa ist verunfallt. Er kommt von seiner Reise nicht zurück. Er ist für immer fort."

 

Die beiden hielten sich ganz fest umschlungen. Fester, als sies je getan. Der Polizeibeamte lächelte gequält und rang nach Worten. "Lea", sagte er, "Dein Papa ist an einem andern Ort, in einer andern Welt. Wo er ist, da ist es wunderschön. Auch meine liebste Frau ist dort, für immer dort."

 

Und Lea schaute auf. "Sie haben recht, es ist dort wunderschön." Die Mutter zog ihr ihre gelbe Regenjacke aus, den Hut und auch die nassen Stiefel. Durch die Tasche schimmerte die Taschenlampe. Lea hatte sie nicht ausgeschaltet.

Die Erkenntnis

Noch immer war nicht klar, was nach dem Tod geschieht. Noch immer blieb ein Rätsel, ob die Seele danach weiter existiert. Man konnte Menschen auf den Mond und auf den Mars befördern, konnte Autos bauen, die auch ohne Fahrer sicher manövrierten.

 

Tiere klonen, Menschen klonen, Glieder und Organe züchten, alles war nun möglich. Doch der Tod, er blieb geheimnisvoll. Es wusste niemand, was geschah, wenn Herz und Hirn nicht mehr durchblutet wurden. Gab es etwas Letztes, das noch weiterlebte?

 

Niemand kannte die präzise Antwort, außer Gläubige und Esoteriker, die sich jedoch zu widersprechen schienen. Und es gab auch noch die Totgeglaubten, die behaupteten, dass sie im Himmel waren und von dort zurückgeschickt im Körper wieder weiterleben mussten.

 

Einer unter vielen Forschern wollte mehr erfahren, wollte endlich wissen, was der Tod verbirgt. Er hatte gründlich recherchiert und viele Fakten und Berichte aufgezeichnet. Aber leider blieben diese letzlich auch nur Daten. die für sich allein genommen, nichts bewiesen.

 

Aus Verzweiflung, dass er nur im Dunkeln tappte, wollte er im Selbstversuch erkunden, was der Menschheit stets verborgen blieb. Er wählte jenen Weg, den die Buddhisten früh`rer Zeiten gingen, wenn sie meditierend langsam aus dem Leben schieden.

 

Er erlernte jahrelang die Praktiken, die ihm erlaubten, Herz und Blutkreislauf zu kontrollieren und zu stoppen, um dem Tod bewusst und vorbereitet zu begegnen. Er erlangte mehr und mehr die Herrschaft über seinen Körper, konnte seinen Puls verschnellern und auch wieder bremsen.

 

Dann, im siebten Jahr begann er seine Reise, welche ihn von seinem Körper trennen sollte. Alles schien perfekt. Er war ein Meister seines Fachs geworden. Meditierend einzuschlafen und im Schlafe wach zu bleiben, war für ihn ein Kinderspiel.

 

Er hatte sieben Jahre lang penibel aufgezeichnet, was in seinem Geiste vorging, wenn er meditierend forschte. Tausende von Seiten Protokolle hatte er gesammelt. Jede Regung seines Innern hielt er fest, um es der Wissenschaft zu überlassen.

 

Doch der letzte Schritt, den er zu gehen hatte, kannte kein Danach. Zumindest glaubte er, dass nach der Trennung seines Geistes von dem Körper die Notizen nicht mehr möglich wären. Schreiben konnte nur der Körper, nicht der Geist allein.

 

Doch seine Neugier war zu groß. Und darum wagte er den allerletzten Coup, auch wenn er nichts Bedeutendes der Nachwelt hinterlassen konnte. Seine Einsicht war Beweis genug. Er wollte dieses Rätsel lösen, ungeachtet dessen, was die Welt davon erfahren würde.

 

An dem schönen Tag im Mai, an dem die Protokolle endeten, begab er sich auf seine letzte Reise. Langsam und gemächlich fuhr er seinen Puls hinunter. Langsam und gemächlich ließ er seinen Atem flacher werden. Langsam und gemächlich ließ er alle Spannung los.

 

Er wusste nicht, wie lange er schon so gesessen hatte, Stunden, Tage oder bloß Minuten, Jedes Zeitgefühl war aus dem Körper, aus dem Sinn entwichen. Doch er spürte eine wunderbare Leere, die sich aus den Zellen und den Adern löste, wie die Düfte aus den Blüten.

 

Tief versunken in der Leere, alles Leben abgestorben und beendet, alles Sinnen, alles Denken ausgelöscht, gewahrte er das Nichts, das ihn umhüllte. Und ein letztes Regen seines Geistes triumphierte, angesichts der Weisheit, die ihn übermannte.

 

Er versank ins Nichts, das größer war und mächtiger, als alles, was er kannte, und es war sich selbst gewahr. Er selber war das Nichts geworden, welches ihn umhüllte und durchdrang. Es war der Tod, den er ersehnte, war das Ende, das er suchte, war die Ewigkeit in einem einz`gen Augenblicke.

 

Als die Putzfrau anderntags die Leiche fand, erschrak sie wie von einem Blitz getroffen. Meditierend saß der tote Körper auf der Matte und ein Buch mit Protokollen lag daneben. Auf dem Antlitz war ein eingefrornes Lächeln, nur sehr vage, nur sehr zart zu sehen.

 

"Für die Wissenschaft gestorben." stand auf seinem Grabstein. "Die Erkenntnis wird nur jenen Menschen offenbar, die über Grenzen gehn." Es war der Satz, den er in seinem Protokoll am Anfang schrieb. Er starb wie viele vor ihm. Doch er tat es ganz bewusst, im Dienste der Erkenntnis.

 
Orlando Bay, Musik - Texte - Bilder 0